Politikerin, Pionierin der sozialen Arbeit und eine der prägenden Persönlichkeiten des Fünften Wohlfahrtsverbandes in der Weimarer Republik. Einblicke in das Engagement Anna von Gierkes anlässlich ihres 150. Geburtstages.

Bevor Anna von Gierke 1926 Teil des Vorstandes des Fünften Wohlfahrtsverbandes (später Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband) wird und in diesem die Leitung der Fachgruppe für Erziehungsfürsorge übernimmt, hat sie bereits einiges bewegt. Ihre, wenn auch konservative, feministische Haltung gilt dabei stets der Verbesserung der Lebensumstände für Frauen und Mädchen und der Förderung des sozialen Engagements.

Von Gierke findet ihre Berufung

Geboren am 14. März 1874 als erstes von sechs Kindern des Rechtswissenschaftlers Otto Gierke und seiner Frau Lili in Breslau, zieht es die Familie bald nach Charlottenburg, wo Anna bis 1890 die Höhere Mädchenschule besucht. Sie freundet sich mit der bürgerlichen Frauenrechtlerin Hedwig Heyl an, die sie für soziale Fragen sensibilisiert. Heyls Ehemann ist Farbenfabrikant in Charlottenburg, Hedwig setzt sich vor allem für die weiblichen Mitarbeitenden der Fabrik ein und gründet für deren Kinder eine entsprechende Betreuungseinrichtung. Später ist es auch Hedwig Heyl, die Anna von Gierke den Aufstieg in die Leitungsebene des Vereins Jugendheim ermöglicht.

Anna von Gierke erwirbt sich den Ruf einer Fachfrau im Bereich der Kinder- und Jugendfürsorge, etabliert den Begriff der Hortnerin und entwickelt wegweisende Standards. Als Sachverständige für Kinderfürsorge in der 1917 gegründeten Frauenarbeitszentrale beim Stab des Kriegsamtes Berlin erarbeitet sie staatliche Richtlinien für die Kinderbetreuung und sorgt mit zahlreichen Reisen selbst für deren Verbreitung. 

Anna von Gierke im Handbuch der verfassunggebenden deutschen Nationalversammlung von 1919.
Fotograf unbekannt, gemeinfrei

Nach Ende des Ersten Weltkrieges beginnt ihr politisches Engagement: Gemeinsam mit ihrem Vater tritt sie in die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) ein und wird in die Stadtverordnetenversammlung von Charlottenburg und die Deutsche Nationalversammlung gewählt. Sie arbeitet im Ausschuss für Soziale Angelegenheiten und wird Vorsitzende des Ausschusses für Bevölkerungspolitik. In dieser Funktion erarbeitet sie gemeinsam mit den Frauen der anderen Fraktionen unter anderem das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (RJWG), das Reichsjugendgerichtsgesetz (RJGG) und die Fürsorgepflichtverordnung (FPV). Doch bereits 1920 trennen sich die Wege von Anna von Gierke und der DNVP, sie sieht sich mit zunehmenden antisemitischen Ressentiments konfrontiert. Ihre Mutter entstammt einer jüdischen Verlegerfamilie aus Frankfurt am Main.

Verbandsarbeit und Engagement im Fünften Wohlfahrtsverband

Von nun an widmet sich von Gierke umfassend der Verbandsarbeit und versucht auf diesem Wege, die Strukturen der Sozial- und Wohlfahrtsarbeit aktiv mitzugestalten. Auf den Beschluss des Bundes Deutscher Frauenvereine hin, in dem sie auch eng mit Luise Kiesselbach zusammenarbeitet, strebt sie im Sommer 1924 eine Versammlung zur Gründung eines Verbandes an, der sich mit Fragen der Wohlfahrtspflege, Erziehungs- und Wirtschaftsfürsorge beschäftigen soll. Es kommt zur Gründung der Humanitas. Verband für Erziehungs- und Wirtschaftsfürsorge. Ein besonderes Anliegen von Gierkes ist es dabei, speziell Frauen eine Plattform für ihre Arbeit in der Jugend-, Erziehungs- und Wirtschaftsfürsorge zu bieten.

Bereits im April 1924 hat sich mit der Vereinigung der freien privaten gemeinnützigen Wohlfahrtseinrichtungen Deutschlands ein konkurrierender Verband gegründet, der sich bald in Fünfter Wohlfahrtsverband umbenennt. Bereits vor der offiziellen Gründung des Humanitas-Verbandes gab es Gespräche zwischen Leopold Langstein, dem Vorsitzenden des Fünften Wohlfahrtsverbandes, und Anna von Gierke. Das Reichsarbeitsministerium setzte schnell auf den “Langsteinverband”, eine Anerkennung als Spitzenverband der freien Wohlfahrtspflege und damit verbundene Reichszuschüsse rückten für die Humanitas in weite Ferne. Es kommt schließlich 1925 zur Fusion mit dem Fünften Wohlfahrtsverband. Der noch junge Verband kann dadurch seine Aktivitäten in der Erziehungs- und Wirtschaftsfürsorge nachhaltig ausbauen. Im gleichen Jahr stößt auch der Paritätische Wohlfahrtsverband Bayern als Organisation auf Landesebene zum Fünften Wohlfahrtsverband. Es sind mit Anna von Gierke und Luise Kiesselbach (Begründerin des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Bayern) zwei Frauen, die den Verband nun entscheidend mitprägen, auch weil sich die ehrenamtliche Basis stark erweitert, die Zahl der Mitgliedsorganisationen deutlich ansteigt und viele Frauen auch in leitender Funktion Verantwortung übernehmen, zum Beispiel in den Landes- und Provinzialvertretungen.

Rückzug wider Willen

Gierkes umfassendes Engagment für den Paritätischen findet 1933 ein jähes Ende, ebenso wie das von Leopold Langstein, der sein Amt als geschäftsführender Vorsitzender des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes niederlegen muss. Beide gelten nach nationalsozialistischer Definition als jüdisch.

Auch alle ihre anderen Ämter, es waren zeitweise mehr als 30, verliert die herausragende Netzwerkerin Anna von Gierke. Ihre einzige Lebensgrundlage stellt von nun an das Landjugendheim Finkenkrug dar, welches sie seit 1921 aufgebaut hat. Dort finden auch Jüd*innen Zuflucht. Anna von Gierke hilft bei der Flucht ins Ausland, indem sie Lebensmittelmarken verteilt und Kontakte für wechselnde Unterkünfte vermittelt. Außerdem sorgt sie für die Verpflegung und die Versorgung in Not geratener Menschen unabhängig von Religion, Alter und Herkunft.

Ihre Wohnung in Berlin-Charlottenburg entwickelt sich zu einem Treffpunkt für Mitglieder der Bekennenden Kirche. Die Widerstandskämpferin Elisabeth von Thadden kommt zeitweise bei von Gierke unter.

Anna von Gierke stirbt am 3. April 1943. Ihre letzte Ruhe findet sie auf dem Friedhof der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche.

Autor*in

Portrait von Stefanie Köhler

Stefanie Köhler

Stefanie Köhler ist Referentin für fachpolitische Grundsatzfragen und koordiniert das Verbandsjubiläum des Paritätischen Gesamtverbandes.

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